Dissertation verteidigen – Ein Bauingenieur berichtet von seiner Promotion
Nihat Kiziltoprak, 32, promoviert an der Technischen Universität Darmstadt am Institut für Statik und Konstruktion zum Thema „Bauen mit Papier“. Vor Kurzem schloss er den letzten Schritt der Promotion, die Verteidigung, ab. Im Interview mit hochschul-job.de verrät er, wie stark Papier als Baumaterial sein kann, worauf es bei der Verteidigung der Dissertation ankommt und warum er nun erst einmal den Schritt in die freie Wirtschaft gewählt hat.
Herr Kiziltoprak, worum drehte sich Ihre Promotion?
Kiziltoprak: Ich bin im Februar 2017 als wissenschaftlicher Mitarbeiter in das Forschungsprojekt „Bauen mit Papier“ an der TU Darmstadt eingestiegen. Das ist eine Grundlagenforschung, um herauszufinden, wo man das Material Papier im Bauwesen einsetzen kann, wo es sinnvoll ist und welche Potentiale es überhaupt besitzt. Meine Dissertation habe ich zusätzlich zu meiner Tätigkeit im Forschungsprojekt geschrieben.
Wo ist Papier als Baumaterial denn sinnvoll?
Kiziltoprak: Darüber könnte ich stundenlang reden (lacht). Es gibt schon zahlreiche Projekte, in denen sich Papier als Baumaterial etabliert hat. Zum Beispiel werden für Leichtbauwände und nicht-tragende Wände Gipskartonplatten verwendet. Das heißt, man hat eine Gipsschicht und diese wird von einer Pappschicht getragen. Wir untersuchten im Projekt nun, ob aus Papier auch tragende Elemente hergestellt werden können. Das Projekt war interdisziplinär aufgebaut, das heißt, ich hatte Kolleg:innen aus dem Maschinenbau, der Chemie, der Architektur oder der Papierfabrikation.
Warum ist gerade der Einsatz von Papier so interessant für das Bauwesen?
Kiziltoprak: Papier ist ein erneuerbarer Rohstoff und dadurch viel nachhaltiger als die klassischen Baumaterialien. Im Vergleich zu Stahl oder Beton verbraucht Papier weniger Energie in der Produktion und ist besser zu recyceln. Es gibt bereits kleinere Projekte oder einzelne Bauten, in denen Papier als Konstruktionsmaterial Einsatz gefunden hat. In Deutschland ist sowas allerdings schwierig aufgrund der bauaufsichtlichen Auflagen, Brandschutz, Feuchtigkeitseinfluss und so weiter. Meine Kolleg:innen aus der Chemie setzten sich beispielsweise speziell damit auseinander, wie man Papier brandfest machen kann, wie man es zumindest so modifizieren kann, dass es nicht weiterbrennt, wenn es einmal Feuer gefangen hat oder wie man das Material in der Faserebene bereits vor Feuchtigkeitseinflüssen schützen kann.
Gibt es einen Aspekt, der Sie an dieser Forschung besonders fasziniert hat?
Kiziltoprak: Ich komme aus dem klassischen Bauwesen. Das heißt, ich hatte mit dem Material Papier noch nichts zu tun. Für mich war das erstmal ein Schreibmaterial. Daher erschien mir das gesamte Thema sehr interessant und es eröffnete mir die Möglichkeit herauszufinden, ob und wie weit ich mich in ein komplett neues Material einarbeiten kann. Das war meine Hauptmotivation, warum ich überhaupt angefangen habe. Faszinierend ist, je mehr man sich mit dem Material Papier beschäftigt, desto interessanter wird es. Man erfährt von Projekten weltweit, bei denen Papier bereits als Baumaterial zum Einsatz kommt.
In England wurde beispielsweise der Anbau einer Schule zu über 90% aus Papier gebaut. Wir untersuchten Papier eher als Notunterkunft oder als halb-permanente Lösung, die auf circa ein Jahr ausgelegt ist. Aber es gibt tatsächlich auch Projekte aus Papier, die sind auf zehn Jahre ausgelegt. Eine Firma in den Niederlanden zum Beispiel baut und verkauft tiny houses, die mehr als 35qm Wohnfläche anbieten können und deren tragender Kern komplett aus Papier ist. Da sieht man, dass es theoretisch möglich ist, dieses Material im Bauwesen zu etablieren. Das Problem ist, dass Papier als Baumaterial bei den Menschen nicht gut ankommt und sozusagen ein Imageproblem hat, weil viele Vorurteile gegenüber Papier haben. Die Firma aus den Niederlanden verdeckt den Papierkern der Häuser mit einer Holz- oder Aluverkleidung.
Es ist besser, wenn die Leute nicht wissen, dass Papier verarbeitet wurde. Da finde ich interessant, wie man psychisch Aufklärungsarbeit leisten kann, um die Leute davon zu überzeugen, dass Papier ein tragfähiges Material ist. Wenn man sich beispielsweise eine Pappröhre mit ringförmigem Querschnitt mit 10 cm Innendurchmesser und 1 cm Wandstärke vorstellt, hat diese Röhre axial in Längsrichtung drei Tonnen Tragfähigkeit. Natürlich spielen da Knickeffekte eine Rolle, die den Einsatz in der Praxis einschränken. Wenn wir Versuche durchführen, gehen wir manchmal Wetten ein bei welcher Kraft die Probe versagt und da unterschätzen selbst wir manchmal, was das Material leisten kann.
Wie finanzieren Sie Ihre Forschung und Ihr tägliches Leben?
Kiziltoprak: Als ich angefangen habe, war das Projekt bereits für die Dauer von vier Jahren genehmigt. Das heißt, die Förderung für das Projekt stand schon fest und darin ist auch das Gehalt für Mitarbeiter:innen enthalten. Ich bekam eine 100% Stelle und konnte so vier Jahre lang arbeiten, ohne mir Gedanken über die Finanzierung machen zu müssen.
Dissertation erfolgreich verteidigen – Bauingenieur Nihat Kiziltoprak gibt einen Einblick in den Ablauf der Verteidigung seiner Doktorarbeit
Sie haben Ihre Promotion kürzlich abgeschlossen. Was würden Sie sagen, worauf kommt es in den letzten Zügen der Promotion am meisten an?
Kiziltoprak: Zeitmanagement! Man muss sich ab dem Beginn der Promotion überlegen, wie man seine Zeit am besten einteilt und parallel zur Projektarbeit überhaupt Zeit findet die Dissertation zu schreiben. Am Anfang nimmt man das nicht so ernst. Auch ich habe den Fehler gemacht, dass ich zu Beginn sehr viel Zeit damit „verloren“ habe, überhaupt ein Thema für meine Dissertation festzulegen. Das Thema „Papier im Bauwesen“ ist noch nicht tiefgehend erforscht, das heißt, da eröffnen sich viele neue Felder und es gibt eine Fülle an Themen, die man im Rahmen einer Doktorarbeit potenziell bearbeiten könnte.
Die Frage bei mir war dann, versuche ich ein Orientierungswerk für alle nachkommenden Wissenschaftler:innen im Bereich „Bauen mit Papier“ zu erarbeiten oder betrachte ich ein spezifisches Problem tiefgehend. Ich habe vorerst versucht, die Mitte zu finden aber mich letztlich doch weiter in das Thema vertieft. Da kommt es dann auch stark darauf an, was der Betreuer/die Betreuerin hinsichtlich des Standards eines wissenschaftlichen Werkes erwartet.
Wenn Sie an Ihre Verteidigung zurückdenken, wie lief das ab und wie haben Sie sich darauf vorbereitet?
Kiziltoprak: Der anstrengendste Teil ist die Dissertation zu schreiben. Das verschiebt man gerne nach hinten. Wenn man das einmal geschafft hat, ist die Verteidigung keine große Sache mehr. Eigentlich ist es nicht viel mehr als den Inhalt der Doktorarbeit nochmals mündlich wiederzugeben. Mein Problem war, die über 200 Seiten Inhalt, die ich erarbeitet hatte, für einen 30-minütigen Vortag einzukürzen. Ich habe die Präsentation vorbereitet und übungsweise für mich vorgetragen. Dieser erste Probevortrag hat anderthalb Stunden gedauert.
Das war dann meine kleine Herausforderung, weniger, schneller und deutlicher zu reden, aber ich habe das gemanagt bekommen. Ich habe von Tag zu Tag gemerkt, dass ich mit jedem Probelauf ein bisschen schneller wurde. Einige Tage vor der Verteidigung war ich auf dem Sommerfest meiner neuen Arbeitsstelle und da wollten viele der neuen Kolleg:innen wissen, zu welchem Thema ich promoviere. Ich habe dann also berichtet, was die Vorteile von Papier sind, was die Nachteile sind, wie wir damit umgegangen sind et cetera und dabei wurde mir erneut bewusst, dass ich viel über das Thema weiß und ein Experte für dieses Themenfeld bin.
Man darf das nicht wie eine Prüfung sehen, für die man gelernt hat und dann Wissen abgefragt wird, sondern man hat sich über mehrere Jahre hinweg in ein Thema eingearbeitet und man ist noch tiefer drin als die Betreuer:innen. Man selbst ist der Experte/die Expertin und die Prüfungskommission versucht den Ablauf, die Methodik und die Ergebnisse nachzuvollziehen und kritisch zu beurteilen. Eine solche Mentalität hilft für die Verteidigung und die eigene Präsenz währenddessen.
Wie geht es dann unmittelbar im Anschluss an die Präsentation weiter?
Kiziltoprak: Danach wurden mir ungefähr eine Stunde lang Fragen gestellt. Dann wird man rausgeschickt und die Zuhörer:innen, falls welche anwesend sind, ebenfalls, damit sich die Prüfungskommission, in meinem Fall waren das meine Betreuer und zwei externe Prüfer:innen aus dem Fachbereich Bauingenieurwesen, die aber nichts speziell mit meinem Thema zu tun hatten, über die Dissertationsschrift und die Präsentation beraten kann. Danach wird direkt die Note verkündet.
Die Dissertation kurz vor der Fertigstellung – Bauingenieur Nihat Kiziltoprak über die letzten anstrengenden Monate vor dem Ende seiner Doktorarbeit
Was war das für ein Gefühl als Sie dann wussten, Sie haben es jetzt geschafft?
Kiziltoprak: Das war auf jeden Fall ein riesige Erleichterung. In meinem Fall war es so, dass ich gegen Ende sehr viel am Stück machen musste, weil ich über einen großen Zeitraum hin und her gerissen war, wie meine Dissertation aussehen sollte. Ich habe erst 15 Monate vor Ende angefangen zu schreiben und da fängt man dann auch erstmal langsam an, weil man denkt, man hätte ja noch so viel Zeit. Den größten Teil der Arbeit habe ich in den letzten vier oder fünf Monaten geschrieben. Da gab es Zeiten, in denen musste ich nachts arbeiten.
Mein Vertrag lief dieses Jahr im Januar aus und ich wurde bereits anderthalb Monate davor vollständig freigestellt, damit ich mehr Zeit für die Dissertationsschrift hatte. Ich habe dann von zu Hause weitergeschrieben. Dort ist aber mein zweijähriger Sohn, der gerne spielen möchte und Aufmerksamkeit einfordert. Um dennoch mit der Dissertation voranzukommen, habe ich meine Schichten verlegt und nachts gearbeitet. Das heißt, ich habe mich gegen 17 Uhr hingesetzt, bis sechs oder sieben Uhr morgens geschrieben und dann bis zwölf Uhr geschlafen.
Über welchen Zeitraum hinweg haben Sie das aufrecht gehalten?
Kiziltoprak: Zwei Monate ungefähr. Man gewöhnt sich an diesen Rhythmus und ist nachts nicht mehr müde, weil es ja jeden Tag dasselbe ist. Für eine Zeitlang ist meine Frau mit meinem Sohn in den Urlaub gegangen, sodass ich drei oder vier Wochen hatte, in denen ich nochmal intensiv und ohne viel Verantwortung für die Familie zu übernehmen, schreiben konnte. Wenn man das alles bedenkt, war es schon eine riesige Erleichterung nach der Prüfung. Ich habe irgendwann nach Einreichung der Dissertationsschrift aber noch vor der Verteidigung einen Freund und seine Frau, die ich beide vom Studium kenne, in der Stadt getroffen und er meinte, dass er auch mit dem Gedanken spiele, zu promovieren. Ich deutete auf seine Frau und sagte: ‚Wenn Du das machen willst, solltest Du als erstes sie um Erlaubnis bitten.‘. Als ich die Arbeit geschrieben habe, war ich teilweise eine Last für die Familie, weil ich auch in der Freizeit wirklich intensiv mit der Arbeit beschäftigt war.
Wenn Sie es nochmal machen könnte, was würden Sie dann anders machen?
Kiziltoprak: Ich würde deutlich früher entscheiden, worüber ich eigentlich schreiben möchte und dann auch früher anfangen zu schreiben. Selbst wenn es nur Grundlagen sind oder allgemeine Dinge für die Anfangskapitel, ich würde dennoch schon Teile frühzeitig aufschreiben, damit ich ein Dokument habe, von dem ich weiß, dass ist das, was am Ende fertig gestellt sein muss.
Bauingenieur Nihat Kiziltoprak zu seiner Motivation für den Doktortitel
Gab es zwischendurch Momente, in denen Sie ans Aufgeben gedacht haben?
Kiziltoprak: Das hatte ich bei der Promotion ehrlich gesagt nicht. Solche Verzweiflungsmomente hatte ich eher während des Studiums. Der Bachelor war bei uns schwierig, da es inhaltlich sehr breit gefächert war. Da habe ich schon überlegt, warum ich das alles überhaupt mache. Mein Ziel war es in den konstruktiven Ingenieurbau zu gehen und als Statiker tätig zu sein.
Wieso haben Sie sich für die Promotion entschieden? Um als Statiker zu arbeiten, bräuchte man ja nicht unbedingt einen Doktortitel.
Kiziltoprak: Ich setze mir eher kurzfristige Ziele. Als ich an meiner Masterthesis gearbeitet habe, wusste ich, dass ich mich bald um einen Job bewerben muss und es da eben die zwei Optionen gäbe, entweder an der Uni zu arbeiten und zu promovieren oder in die freie Wirtschaft zu gehen und als Bauingenieur zu arbeiten. Als Bauingenieur hätte ich mich zwar beruflich sehr schnell weiterentwickeln können aber für die Promotion sprach, dass ich mich noch weiterbilden konnte, was ich wertvoller fand. Deswegen habe ich mich, als sich die Möglichkeit ergab, für die Promotion entschieden. Ich wollte für mich herausfinden, ob ich es schaffe, mich in dieses für mich komplett neue Material Papier einzuarbeiten.
Das heißt, Sie ziehen Ihre Motivation vordergründig aus dem Thema?
Kiziltoprak: Genau, je weiter ich zum Ende meiner Masterthesis kam, desto interessierter wurde ich daran zu promovieren, denn in der Masterarbeit erforscht man ja auch ein bestimmtes Thema tiefgehend. Das hat mir Spaß gemacht und ich habe gute Fortschritte erzielt. Es hat mich gereizt für mich selbst ein Limit zu finden, bis zu welchem Maße ich fit darin bin mich in Forschungsthemen einzuarbeiten und etwas voranzubringen. Ich habe mich mit Kolleg:innen und Freund:innen ausgetauscht, die in der freien Wirtschaft tätig sind oder waren, und dabei erkannt, dass es schwieriger ist vom Ingenieurbüro zurück an die Universität zu gehen als umgekehrt.
Es gibt diese Möglichkeiten aber Ingenieur:innen tun sich eher schwer damit ihren geregelten Tagesablauf hinter sich zu lassen und sich wieder in das chaotischere „Unileben“ einzufinden. Vielleicht spielt auch die Bezahlung eine Rolle. Wenn man bereits ein wenig Erfahrung als Ingenieur:in gesammelt hat, wird man von den Ingenieurbüros besser bezahlt als junge Angestellte im öffentlichen Dienst. Ich habe für mich jedenfalls gewusst, wenn ich erst in die freie Wirtschaft gehe, wird es danach schwieriger, wieder an die Universität zurückzufinden.
Bauingenieur Nihat Kiziltoprak über die Finanzierung der Promotion in der letzten Phase
War es ein Problem für Sie die letzten Monate Ihrer Promotion ohne Vertrag und damit ohne Finanzierung abzuschließen?
Kiziltoprak: Ich hätte mich schon davor mehr bemühen können, dann hätte ich es auch in der Vertragslaufzeit geschafft. Aber mir hat das wenig ausgemacht, das danach noch fortzuführen und daraus etwas Besseres zu machen, damit die Qualität der Arbeit nochmal eine höhere ist.
Wie lange dauert der Zeitraum zwischen Abgabe der Dissertationsschrift und der Verteidigung?
Kiziltoprak: Zweieinhalb Monate waren es bei mir ungefähr.
Wie haben Sie diese Zeit genutzt?
Kiziltoprak: Ich habe mich in der Zeit intensiver nach Jobs umgeschaut und mich um Stellen beworben.
Wie geht es denn nun nach der Verteidigung für Sie weiter?
Kiziltoprak: Ich arbeite bereits seit Mitte Mai in einem Ingenieurbüro in der Tragwerksplanung. Wenn man diesen Weg geht, werden viele im Bauwesen das Problem haben, dass man das Ingenieurbüro erst einmal davon überzeugen muss, dass man nun kein Anfänger/keine Anfängerin mehr ist. So wird man nämlich erst einmal gesehen, obwohl man bereits jahrelange Erfahrung als wissenschaftlicher Mitarbeiter/wissenschaftliche Mitarbeiterin gesammelt hat. Aber in meinem Fall hat das Thema der Dissertation nicht viel mit dem Alltagsgeschäft des Ingenieurbüros zu tun und dann wird es schwer, davon zu überzeugen, dass man nicht gleichgestellt ist mit jemandem der frisch aus dem Masterstudium kommt.
Ich habe den Master Ende 2016 abgeschlossen. Das ist fast sechs Jahre her und einige Arbeitgeber:innen gehen tatsächlich davon aus, dass diese letzten sechs Jahre nicht existiert haben, obwohl man an der Universität viel Projektarbeit leistet, Lehre betreut und sich mit Problemen in der Statik umso intensiver beschäftigt hat. Eventuell ist es auch eine Strategie, um das angebotene Gehalt niedrig halten zu können. Jedenfalls sehen die Unternehmen die Promotion lediglich als Bestätigung dafür, dass man in der Lage ist sich in neue Themen einzuarbeiten.
Bauingenieur Nihat Kiziltoprak über die Unterschiede zwischen der Arbeit als Doktorand und in der freien Wirtschaft
Wie unterscheidet sich die Arbeit an der Universität von der in einem Ingenieurbüro?
Kiziltoprak: Die gestellten Erwartungen sind andere. An der Universität bekommt man die Arbeitspakete für das Forschungsprojekt und die Tätigkeiten, die man beispielsweise fürs Institut erledigen muss und ist mit vielen Freiheiten auf sich gestellt. Man hat zwar Deadlines, aber man kann sich seine Zeit selbst großzügig einteilen und die Art und Weise, zu arbeiten, selbst gestalten. Man kann sich die Zeit nehmen, um sich mit einem Problem näher zu befassen und auch auf Themen eingehen, die sich aus persönlichen Interessen oder für die persönliche Entwicklung ergeben.
Im Ingenieurbüro würde diese Arbeitsweise auf Kosten der Effizienz gehen. An der Universität arbeitet man ergebnisorientiert, im Unternehmen normalerweise gewinnorientiert. Ich habe das Glück einen Arbeitgeber zu haben, der die Entwicklung und Weiterbildung seiner Mitarbeiter:innen wertschätzt; das ist aber nicht die Regel. Natürlich kann man nicht mehr leisten als der Körper erlaubt und man sollte sich deshalb auch nicht zu sehr stressen. Ich bin kein Mensch, der sich stresst, sondern der die Dinge eher rational angeht, sodass sie am Ende eine bestimmte Qualität aufweisen, auch wenn es die dafür notwendige Zeit in Anspruch nimmt.
Würden Sie sagen, dass Ihr Job jetzt stressiger ist oder dass die Zeit an der Universität stressiger war?
Kiziltoprak: Die Promotionszeit ist schon sehr viel stressiger, weil man so viele verschiedene Aufgaben bewältigen musste. Man hat mit den Projektaufgaben zu tun, mit der Lehre, mit Institutsaufgaben, man betreut Abschlussarbeiten von Studierenden und währenddessen muss man noch Zeit für die eigene Dissertation finden, die immer an einem nagt. In der Forschung stellt man selbst die Fragen, die beantwortet werden müssen. Im Ingenieuralltag ist es angenehmer geregelt, denn ich kenne meine Projekte und die Projektziele. Und wenn ich Feierabend habe, kann ich den Büroalltag vorerst hinter mir lassen.
Können Sie sich an einen besonders schönen Moment während Ihrer Promotionszeit erinnern?
Kiziltoprak: Was mir auf jeden Fall fehlt ist das Team, denn wir kamen gut miteinander aus und haben immerhin vier Jahre lang zusammengearbeitet. Also gar nicht nur die Kolleg:innen von meinem Institut, sondern auch die Kolleg:innen aus den anderen Fachbereichen, die mit mir in dem Projekt waren. Das waren schöne Zeiten, in denen wir oftmals auch Privates zusammen unternommen haben.
Wo sehen Sie sich in zehn Jahren?
Kiziltoprak: Das ist eine schöne Frage und eine Sache, die ich mich auch oft frage. Ich weiß es ehrlich gesagt noch nicht. Ich habe Vorstellungen davon, aber es ist alles noch sehr verschwommen. Ich versuche stets mir mehrere Perspektiven offenzuhalten, sodass ich mich entscheiden kann und nie eine Tür ganz schließe. Die Promotion eröffnet mir nun die Möglichkeit, zwischen Wissenschaft und freier Wirtschaft wählen zu können. Erst einmal wollte ich jetzt in den konstruktiven Ingenieurbau, um wertvolle Praxiserfahrung zu sammeln, die einen erfolgreichen Ingenieur/eine erfolgreiche Ingenieurin auszeichnet.
Aber Sie könnten sich grundsätzlich vorstellen, zurück in die Wissenschaft zu gehen?
Kiziltoprak: Ja, natürlich. Das gibt mir gerade auch viel Sicherheit, weil ich weiß, ich kann jetzt im Ingenieurbau arbeiten und falls mir das irgendwann zu repetitiv wird, ich nicht mehr vorankomme und nichts Neues mehr lerne, habe ich immer die Möglichkeit, wieder in andere Bereiche einzusteigen. Ich kann im Ingenieurbau groß Karriere machen, hier aufsteigen, aber ich kann auch in die Forschung gehen oder irgendwann vielleicht sogar eine Stelle für eine Professur an einer Hochschule oder einer Universität übernehmen. Ich möchte aktuell jedoch auch Zeit für die Familie und Zeit für mich haben und das geht besser im Ingenieurbüro.
So wie ich mich kenne, komme ich in der Forschung nicht drum herum auch in der Freizeit zu arbeiten, um dabei erfolgreich zu sein. Da sind Arbeit und Freizeit schwieriger voneinander zu trennen. Auch wenn ich die Arbeitsweise von meinen Kolleg:innen oder meinem Professor sehe: ich weiß, wenn ich meinem Professor am Sonntag um 14 Uhr eine Mail schreibe, dass er mir innerhalb von Minuten antworten wird, was mir zeigt, dass die Professor:innen auch in ihrer Freizeit sehr an ihre Arbeit gebunden sind und das kann ich mir aktuell aufgrund der Verantwortung für meine Familie nicht vorstellen. Ich kann jedem für ihre/seine Zukunft anraten, sich mehrere Wege im Leben offen zu halten, denn dadurch haben sie immer ein Back-up.
Das Gespräch führt Redakteurin Carolin Heilig am 14.07.2022.
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