Freiheit in der Wissenschaftskommunikation
Wie kann wissenschaftlicher Dialog in die Gesellschaft getragen werden?
„Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“ – aus dem Song „Über den Wolken“ von Reinhard Mey
Dieser Klassiker der deutschen Popmusik funktionierte nicht nur in der DDR-Zeit, sondern auch heute noch ganz individuell als Projektionsfläche zur Vorstellung von Freiheit. Doch auch wenn Freiheit, in all ihren Facetten schier ungreifbar ist, ist sie doch fest im Grundgesetz verankert. Am 23. Mai dieses Jahres feierte das deutsche Grundgesetz seinen 75. Geburtstag. Aus diesem Grund widmet sich das Wissenschaftsjahr 2024 dem Thema der Freiheit und fördert eine Vielzahl von Projekten, die den Dialog über Freiheit in der Gesellschaft, Wissenschaft und Forschung anstoßen. Eins der Projekte, welche die Jury überzeugen konnte, ist „PASSAUtonomy“ der Universität Passau. Mit verschiedenen Veranstaltungen möchte das Projektteam die Universität, die Stadtgesellschaft und Jugendliche zu einem Dialog über Kant und die individuellen Freiheitsverständnisse anregen. Denn frei nach Kant gehört zur Freiheit, eigene Überzeugungen mit anderen diskutieren zu können. Dass dies nicht nur „über den Wolken“ mithilfe der eigenen Vorstellungskraft möglich ist, zeigen die innovativen Ansätze zur Wissenschaftskommunikation des Projekts.
Johanna Sinn ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für angewandte Ethik der Universität Passau. Neben ihrer laufenden Promotion mit einer Arbeit zu Beispielen in der Moralphilosophie, organisiert sie das Projekt PASSAUtonomy zusammen mit sechs Studierenden unterschiedlicher Fächer. Für Hochschul-Job.de stellt sie das Projekt vor, erklärt, was gute Wissenschaftskommunikation für sie ausmacht und welche innovativen Formen durch das Projekt entwickelt wurden, um wissenschaftlichen Diskurs in die Gesellschaft zu tragen.
PASSAUtonomy – Aufbau des Projekts
Wie ist das Projekt aufgebaut?
Sinn: „PASSAUtonomy besteht aus drei Teilprojekten, die sich aber alle mit Immanuel Kant und dessen Freiheitsbegriff beschäftigen. Denn Immanuel Kant Philosophie hat vieles, was man heute in Europa unter Freiheit versteht, geprägt. Wir finden besonders den Gedanken interessant, dass Freiheit mit Selbstgesetzgebung zu tun hat: ohne Gesetze gibt es dann keine Freiheit, aber es müssen eben selbstgegebene Gesetze sein. Die drei Projekte haben unterschiedliche Zielgruppen. Es gibt ein Projekt, das als Schulworkshop konzipiert wird und von verschiedenen Schulen besucht werden kann. Dann gibt es ein Teilprojekt, das „Philosophieren im Biergarten“ heißt, welches sich primär an die Passauer Stadtbevölkerung richtet. Das dritte Projekt findet innerhalb der Uni statt. Es handelt sich um eine Podiumsdiskussion, die wir in einem Studierendenprojekt vorbereiten. Wir treffen uns gerade immer in einem Lesekreis und bereiten das inhaltlich vor. Anfang Juli, wird es dann eine kleine Ausstellung und die Podiumsdiskussion geben.“
Was für neue Ansätze der Wissenschaftskommunikation verfolgt das Projekt?
Sinn: „Wir haben mit dem Projekt den Hochschulwettbewerb von Wissenschaft im Dialog, der Wissenschaftskommunikation fördert, gewonnen. Bei uns geht es dadurch, dass wir drei Teilprojekte haben, um drei verschiedene Zielgruppen und Formate. Uns ist in allen Teilen des Projekts wichtig, dass es einen Part von partizipativer Kommunikation gibt. Im Schulworkshop sollen sich die SchülerInnen beispielsweise in einem Planspiel selbst mit Kant auseinandersetzen und eigene Positionen entwickeln.“
„Uns ist in allen Teilen des Projekts partizipative Kommunikation wichtig.“ – Johanna Sinn
Sinn: „Philosophieren im Biergarten ist ebenfalls partizipativ gedacht. Wir treffen uns dort in einer lockeren Gesprächsrunde, in der jeder und jede etwas beitragen und Fragen stellen kann, wie sie oder er möchte. Es gibt einen kleinen Input am Anfang, aber es geht dann vor allem darum ins gemeinsame Gespräch zu kommen. Auch bei der Podiumsdiskussion haben wir einen partizipativen Ansatz im Fishbowl Format gewählt. Wir haben vier geladene Gäste, aber es gibt auch einen freien Stuhl, der für Publikumsbeteiligung offen ist. Wir hoffen, dass dadurch mehr Stimmen und neue Ideen in die Diskussion kommen.“
Fishbowl (dt. Goldfischglas) Methode:
Die Fishbowl Methode ist eine einfache, dynamische Alternative zur Podiumsdiskussion. Die Diskussionsgruppe wird in einen Innen- und Außenkreis aufgeteilt. Dabei wird festgelegt, wer zu Beginn aktiv mitdiskutiert und wer erst einmal zuhört. Im Innenkreis diskutiert eine kleine Gruppe von Teilnehmenden (ca. 4-5), während die Mehrheit im Außenkreis (bzw. den Außenkreisen) die Diskussion beobachtet. Wenn sich jemand aus dem Außenkreis an der Diskussion beteiligen möchte, kann ein freier Stuhl in der Mitte eingenommen oder der Platz mit einem Teilnehmenden aus dem Innenkreis getauscht werden. Das einzige feste Mitglied im Innenkreis ist die ModeratorIn.
Quelle: Wissenschaftskommunikation.de
Wie hat das Projektteam die verschiedenen partizipativen Formen der Wissenschaftskommunikation entwickelt?
Sinn: „Das Format Philosophieren im Biergarten ist vielleicht ganz anschaulich, denn da gibt es das klassische Format „Philosophisches Café“, das weltweit durchgeführt wird und wo wir uns dachten in Passau passt das eigentlich besser in den Biergarten. Weil das einfach ein netter Ort ist, den es nicht überall gibt, aber hier das Flair und die Atmosphäre der Stadt viel besser spiegelt, als ins Café zu gehen. Dementsprechend haben wir das angepasst auf unsere Situation hier.“
Philosophisches Café
Die Idee des „Philosophischen Cafés“ wurde in den 90er Jahren von Marc Sautet in Paris entwickelt. Beim Format handelt es sich um eine Gesprächsrunde unter Laien, die von einem Philosophen moderiert wird. Die moderierende Person stellt zu Beginn die eigenen zentralen Gedanken vor, um die Diskussion anzustoßen. Es geht darum die eigenen Positionen im Gespräch zu schärfen, aber auch neue Blickwinkel kennenzulernen.
Quelle: die Philosophie des philsophischen Cafés von Lutz von Werder
Was sehen Sie noch für Verbesserungsvorschläge für das Projekt?
Sinn: „Beim Teilprojekt „Philosophischer Biergarten“ merken wir, dass es gar nicht so leicht ist die Stadtbevölkerung so zu erreichen, dass BürgerInnen zu einem neuen Format erscheinen. Wir haben nicht damit gerechnet, dass 50 Menschen zum ersten Termin kommen, aber es ist gar nicht so leicht so ein offenes philosophisches Format zu bewerben. Wir haben den Eindruck, dass sich neue Formate erstmal etablieren müssen und vielleicht doch auch die persönlichen Kanäle wirksamer sind.“
„Wir haben den Eindruck, dass sich neue Formate erstmal etablieren müssen.“ – Johanna Sinn
Sinn: „Also Menschen zum Beispiel direkt anzusprechen, als nur zu plakatieren. Wir finden gerade noch heraus, wie wir die Zielgruppe am besten erreichen. Im Prinzip ist das Format schon so gedacht, dass auch MitarbeiterInnen der Uni zum philosophischen Biergarten kommen dürfen, denn diese sind ja gleichzeitig auch Teil der Stadtbevölkerung. Es waren viele Leute da, die wir persönlich kannten und wenige, die wir vorher noch nicht kannten und die gar keinen Bezug sonst zur Uni hatten. Da würden wir uns wünschen das sich das anteilig noch mehr in diese Richtung verschiebt. Es war trotzdem keine akademische Veranstaltung in diesem Sinn, also wir haben zum Beispiel nicht viele Fachbegriffe benutzt oder ganz spezifische Fragen verfolgt, sondern sind spontanen Gedanken nachgegangen.“
Sinn: „An dem ersten Abend haben wir eine Stunde lang über einen Text von Kant diskutiert. Wir hatten den Text in Auszügen dabei und haben ihn dann abschnittsweise gelesen und besprochen. Ich fand es total schön, dass sich alle Anwesenden mehrfach beteiligt haben. Ich hatte zwar die Moderationsrolle, aber ich musste gar nicht so viel die Gespräche ankurbeln und mich darum bemühen, dass die Gespräche in Gang kommen, das ging eigentlich von selbst. Das war dann für uns schon eine Bestätigung, dass das Format gut ankommt.“
Weiterentwicklung der Veranstaltungsformen
Wie läuft der nächste Termin des philosophischen Biergartens ab?
Sinn: „Zum nächsten Treffen im Biergarten werden wir ein Ausstellungsstück mitbringen, an dem man ganz praktisch verschiedene Dinge zur Freiheit ausprobieren kann. Wir haben aus der Kant Ausstellung in Bonn einen Nachbau von einem Ausstellungsstück bekommen, den „Freiheitsflipper“. Es besteht aus vier Tischen mit einer schrägen Oberfläche, wo dann Kugeln herunterlaufen können, wenn man sie oben loslässt. Es gibt verschiedene Arten von Hindernissen auf diesen Tischen, die dann eben verschiedene Arten von Freiheitsverständnissen veranschaulichen. Mal gibt es Hindernisse die fest stehen, mal gibt es Oberflächen, die ganz freistehen. Mal kann man die Kugeln gar nicht bewegen. Da sind wir gespannt, wie das ankommt und läuft. Und ein bisschen Text von Kant zu Fragen individueller Freiheit gibt es natürlich auch. Wir treffen uns übrigens für jeden Termin in einem anderen Biergarten, sodass man nebenbei vielleicht noch ein paar schöne Orte in Passau kennenlernt.“
Gesellschaftliche Kritik an Kant
Inwiefern schreckt es Menschen ab, wenn sie Kant hören?
Sinn: „Das passiert natürlich. Da ist zum einen möglicherweise ein Bild von Philosophie im Allgemeinen im Spiel, von dem sich nicht alle angesprochen fühlen: als realitätsfern oder zu idealistisch oder auch wegen der historischen Texte. Das können Hürden in der Auseinandersetzung mit Kant sein, und diesem Bild versuchen wir natürlich auch ein wenig entgegenzuwirken. Zum anderen gab es in den letzten Jahren, vor allem in der Philosophie, aber ich glaube, dass dies auch nach außen gedrungen ist, Diskussionen um Kant und Rassismus und Sexismus. Also darüber, dass es Textstellen bei Kant gibt, die bestimmte Personengruppen abwerten. Wie die genau einzuordnen sind, ist mittlerweile eine große Diskussion innerhalb des Faches, und ich finde es wichtig, dass darüber gesprochen wird.“
Sinn: „Dementsprechend bin ich eigentlich eher froh, wenn Menschen solche Bedenken gegenüber Kant im Kopf haben, denn der Umgang damit ist eine wichtige Frage. Lohnt es sich trotzdem sich mit Kant zu beschäftigen? Wie war das auch in seiner Zeit zu verstehen? Und wie prägen uns vielleicht manche problematischen Zusammenhänge bis heute? Ich habe bei Kant insgesamt das Gefühl, dass es viele Menschen gibt, die ein sehr positives Bild von Kant haben und die großen Errungenschaften wie die Aufklärung sehen und dann die kritische Fraktion, die stärker diese neueren Themen der Diskriminierung und Rationalismuskritik in den Blick nimmt. Das spannende ist, wenn man versucht beide Seiten ins Gespräch zu nehmen. Beim ersten Lesekreis im Studierenden-Teilprojekt waren zum Beispiel auch Studierende dabei, die haben gesagt, ich habe noch nie Kant gelesen und hatte eigentlich eher ein schlechtes Bild von ihm und jetzt, wo ich den Text lese, ist es doch recht spannend und gar nicht so klar wie das zu verstehen ist. Aus den Diskussionen ergeben sich immer spannende Gespräche.“
Sinn: „Beim Biergarten waren durchaus auch Menschen dabei, die zu Kant nicht so viel Bezug haben. Gehört hatte den Namen, von den Menschen, die da waren, jeder. Aber wir haben zu Beginn auch eine Runde gemacht, wo jeder erzählt hat was sie oder er mit Kant und Freiheit verbindet und da kamen ganz unterschiedliche Dinge raus: Vernunft und Aufklärung, aber auch lange Sätze oder die eigene Schulzeit. Ich finde das schöne bei Kant ist, dass es so grundsätzliche Themen sind, die uns heute immer noch betreffen und man muss Kant nicht vorher gelesen haben, um sich damit zu beschäftigen. Es sind vielleicht manchmal komplizierte Texte, aber sie sind doch so zugänglich, dass man spontan eine Reaktion hat und darüber sprechen kann.“
„Wissenschaftskommunikation sollte zielgruppengerecht sein“ – Johanna Sinn
Wie sieht gute Wissenschaftskommunikation aus?
Sinn: „Für uns ist das jetzt ein neues Projekt und wir arbeiten uns erst in die Thematik ein. Von Wissenschaft im Dialog werden wir mit Fortbildungen gefördert. Gelernt haben wir dort auf jeden Fall, dass Wissenschaftskommunikation zielgruppengerecht sein sollte. Man sollte sich überlegen, wen man ansprechen will. Die Grundidee ist für mich außerdem immer, dass es zumindest in der Philosophie eher um einen Austausch geht, also dass kein einseitiger Kommunikationsprozess stattfindet. Es muss nicht nur darum gehen, wie die Wissenschaft bestimmte Inhalte an die Bevölkerung vermittelt. Ich verstehe Wissenschaftskommunikation auch als einen wechselseitigen Prozess, in dem Themen aus der Gesellschaft aufgegriffen werden oder man versucht ins Gespräch zu kommen. Deswegen legen wir so viel Wert auf partizipative Ansätze in unserem Projekt.“
Hat die Wissenschaft eine Verpflichtung ihre Ergebnisse BürgerInnen zu vermitteln?
Sinn: „Ich finde schon, dass die Wissenschaften eine solche Verpflichtung haben, wenn sie im Auftrag der Gesellschaft und der Allgemeinheit forschen und dass sie daher auch ihre Ergebnisse an die Gesellschaft kommunizieren sollten. Ich würde aber nicht davon ausgehen, dass Wissenschaftskommunikation nur so funktioniert, dass wir verschiedene Ergebnisse haben, die wir dann BürgerInnen vermitteln. In anderen Wissenschaften mag das primär so sein, aber vor allem in der Philosophie würde ich sagen, dass es eher darum geht Gespräche zu initiieren und Gedanken aufzugreifen und diese dann philosophisch zu hinterfragen. Was ich in Passau außerdem schon wahrnehme, ist ein Interesse der Stadtbevölkerung, zum Beispiel wenn es öffentliche Ringvorlesungen gibt. Auch da sind im Anschluss Fragen und Kommentare erlaubt und erwünscht.“
„Ich denke, dass Wissenschaftskommunikation bestimmt nicht immer alle Menschen erreicht.“ – Johanna Sinn
Sinn: „Ich denke, dass Wissenschaftskommunikation bestimmt nicht immer alle Menschen erreicht. Ich weiß auch nicht, ob sie das muss oder will, vor allem wenn sie zielgruppenorientiert vorgeht. Ich sehe und erlebe aber durchaus viel Interesse an Wissenschaft im außerakademischen Freundeskreis oder in der Familie. Gerade bei Themen wie KI oder Freiheit da hat jeder einen Bezug dazu.“
Gibt es Unterschiede in der internen und externen Wissenschaftskommunikation?
Sinn: „Bei den innerfachlichen Formaten gibt es solche, die immer wieder bedient werden, je nachdem an welche Gruppe sie sich richten. Es gibt in der Philosophie zum Beispiel Kolloquien für DoktorandInnen oder Tagungen, die für alle Statusgruppen offen sind. Ich glaube in der externen Kommunikation bemüht man sich etwas mehr um innovative Formate, die andere Kulturformate aufnehmen. Ich finde die Philosophiefestivals in Zürich oder Hannover sind ein gutes Beispiel, für neue Formate in der Philosophie.
Auch wenn das vorgestellte Projekt „PASSAUtonomy“ bewusst die Gesellschaft am wissenschaftlichen Diskurs teilnehmen lässt, entspricht diese Form der Wissenschaftskommunikation nicht dem Regelfall. Wie der Generalsekretär des Stifterverbands Volker Meyer-Guckel bemerkt, besteht heutige Wissenschaftskommunikation zu einem Großteil aus der „Selbstdarstellung von Forschungsinstitutionen und der einseitigen Medialisierung von Forschungsergebnissen“. Doch gerade die Verbindung von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik mithilfe der Wissenschaftskommunikation macht diese wertvoll für unsere Demokratie. In Zeiten der Digitalisierung funktioniert die Vernetzung vor allem über Online-Wissenschaftskommunikation. Diesen Veränderungen muss sich die Wissenschaft als Kommunikator anpassen.
Dort herrscht noch Aufholbedarf: momentan nutzen nur wenige wissenschaftliche Akteure Online-Medien zur Außenkommunikation. Viel mehr greifen lediglich auf Datenbanken oder Sharing-Dienste zurück, welche dann aber oft nur andere WissenschaftlerInnen und keine Laien erreichen. Neue, partizipative Formen der Wissenschaftskommunikation sind wichtig. Sie können einen großen Anteil daran leisten, Menschen außerhalb eines akademischen Umfelds über wissenschaftliche Themen aufzuklären, eine Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs zu ermöglichen und so auch die Grundpfeiler unserer Demokratie zu stärken.
Dieses Interview führte Redakteurin Hanna Uhl am 04.06.2024.