
Forschungsbewertung in Deutschland – Impulse aus Europa, wissenschaftliche Erkenntnisse & schlaue Ideen
Aktuelles aus der Wissenschaft
Die Bewertung von wissenschaftlicher Leistung soll seit Jahren reformiert werden. Weltweit entwickeln sich neue Aspekte, wie Forschung fairer und zeitgemäßer bewertet werden kann. Von Regierungen und involvierten Institutionen, wie der Deutschen Forschungsgemeinschaft, werden neue Regelungen und Richtlinien etabliert. Wer mehr über die Rolle der DFG sowie ihre Maßnahmen und Ziele erfahren möchte, findet hier ein Interview mit Dr. Anna Christa und Dr. Matthias Kiesselbach aus dem Team Verfahrensgestaltung.
Forschung im Bereich der Wissenschaftsbewertung ist essenziell, um eine bestmöglichste Reform entwickeln zu können, die Forschern und Forscherinnen nachhaltig ihre Arbeit erleichtert. Zwei Frauen, welche die Reform der Wissenschaftsbewertung mithilfe eigener Forschung angehen, sind Dr. Isabel Roessler und Prof. Dr. Ute Klammer.

Dr. Isabell Roessler ist Senior Projektmanagerin beim Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) und analysierte unter anderem neue Bewertungsansätze in Spanien und Italien. Im Interview verrät sie den aktuellen Stand der reformierten Wissenschaftsbewertung in Deutschland und Europa. Außerdem gibt sie eine Einschätzung, ob Ideen aus dem europäischen Ausland in Deutschland möglich wären.
Springen Sie hier zum Interview mit Prof. Dr. Ute Klammer. Sie erzählt vom Projekt EXENKO, das sich mit wissenschaftlicher Exzellenz beschäftigt und wie diese sichtbar gemacht wird. Außerdem zeigt sie praktische Handlungsanweisung auf, wie Hochschulen die wissenschaftliche Leistung benachteiligter Gruppen sichtbarer machen können.

Warum beschäftigt Sie das Thema der wissenschaftlichen Leistungsbewertung?
Dr. Isabel Roessler: „Es gibt ja schon seit einigen Jahren Bestrebungen die Forschungsbewertung, wie sie aktuell durchgeführt wird, anzupassen. Das war auch der Anlass für den Text Forschungsbewertung im Wandel. Zum Beispiel gibt es in Deutschland ein immer größeres Interesse an CoARA. Das ist eine europäische Initiative, in der es genau um den Aspekt der Neu-Bewertung von Wissenschaft geht. Dieser Initiative sind inzwischen viele Hochschulen beigetreten. Darunter als Gast auch die HRK (Hochschulrektorenkonferenz), eine der großen Stimmen der deutschen Hochschulpolitik. Ich sehe in der CoARA Initiative ein enormes Potenzial. Die zweite aktuelle Relevanz für das Thema ist, dass es in verschiedenen europäischen Ländern Bestrebungen gibt, die Forschungsbewertung an die heutige Zeit anzupassen. Zum Beispiel, dass nicht nur Publikationen wichtig sind, sondern auch andere Faktoren immer mehr in den Fokus rücken.“
Was haben Sie in Ihrer Veröffentlichung untersucht?
Dr. Isabel Roessler: „Ich habe untersucht, wo die deutsche Debatte gerade steht. Man muss bedenken, dass wir durch den Bildungsföderalismus 16 unterschiedliche Regelungen haben, wie Forschungsbewertung und -finanzierung durchgeführt wird. Nach wie vor weit verbreitet sind verschiedenste Formen der LOM, der leistungsorientierten Mittelvergabe. Aber es gibt auch innerhalb von Deutschland Veränderungen in der Mittelvergabe. Zusätzlich habe ich analysiert, wie Forschungsbewertung in Italien und Spanien aussieht. Italien und Spanien waren für diese Veröffentlichung spannend, weil die Entwicklungen ganz aktuell sind.“

Gibt es Veränderungen in den Bewertungssystemen der Bundesländer?
Dr. Isabel Roessler: „Das ist sehr unterschiedlich. Wir haben in vielen Bundesländern immer noch irgendeine Form der leistungsorientierten Mittelvergabe. Oft ist z.B. die Anzahl von Publikationen ein Kriterium, wenn es um die Vergabe und Zuteilung von Geldern geht. Bayern hat vor einem Jahr gesagt, gut, wir frieren die LOM-Verteilungskriterien ein und führen die Finanzierung einfach mit den Daten aus Jahr x fort. Andere Länder, wie Niedersachsen, sind gerade dabei Änderungen durchzuführen. Und Sachsen hat vor kurzem eine Umgestaltung vorgenommen und schaut jetzt mehr auf den Transfer-Aspekt.“
Wie sieht das neue Beurteilungsschema in Sachsen aus?
Dr. Isabel Roessler: „Es kann jetzt zum Beispiel auch zu einer Mittelreduktion kommen. Das ist ein spannender Ansatz. Der Wissenschaftsminister von Sachsen, Herr Gemkow, hat neulich in einem vielzitierten Interview zusammengefasst gesagt: „Wir brauchen die Wissenschaft, um wirtschafts- und zukunftsfähig zu bleiben“. Er will beispielsweise Ausgründungen aus der Wissenschaft beschleunigen. Durch die Berücksichtigung von Transferaspekten in der Mittelverteilung hat Sachsen einen Weg gewählt, den man mal ausprobieren kann. Man muss aber schauen, ob das funktioniert. Es ist momentan noch zu früh, um eine Einschätzung zu machen, aber ich halte grundsätzlich erstmal jede neue Idee für gut. Es zeigt einen gewissen Mut, Dinge, die sich über viele viele Jahre etabliert haben, nochmal neu denken zu wollen, sich zu trauen die Fragen anders zu stellen und die Herangehensweise zu verändern. Ich bin grundsätzlich erstmal positiv gestimmt.“

Was macht Italien in der Forschungsbewertung anders?
Dr. Isabel Roessler: „Italien hat ähnlich wie Deutschland eine Art leistungsorientierte Mittelvergabe. 5% der Gelder, die über Leistungsindikatoren vergeben werden, stehen im Kontext der Third Mission. Darunter fallen Aspekte wie der Erhalt des Kulturerbes, Start-Ups, Gründungen, aber auch gesellschaftliches Engagement. Ihre Third Mission Aktivitäten belegen die Hochschulen über Fallstudien. Das heißt, dass jede Hochschule in Abhängigkeit von der Anzahl ihrer Forschenden eine definierte Anzahl von Fallstudien einreicht. Diese werden dann auf einer 5-er Skala bewertet und je nachdem wie hoch die Gesamtpunkte sind, wird die Höhe der Förderung ausbezahlt.“
„Das ist kein Bashing, sondern ein Herausstellen was Gutes in diesem Bereich gemacht wird“ – Dr. Isabel Roessler
Dr. Isabel Roessler: „Das ist spannend, weil durch diese Fallstudien Hochschulen ihre wirklich guten, herausragenden Vorhaben präsentieren können. Ich finde das ist kein Bashing, sondern einfach ein Herausstellen was Gutes in diesem Bereich gemacht wird. Die Hochschulen können auch selbst entscheiden, was sie da präsentieren und einreichen wollen. Einzig die Anzahl ist vorgegeben. Große Universitäten müssen mehr einreichen als kleine. Das ist auch nachvollziehbar, irgendwo muss man das festmachen, sonst würden die großen ja auch nur ihr super, super erfolgreiches Projekt einreichen und die kleinen in die Röhre gucken. Damit verbunden ist auch, dass sich die großen anstrengen müssen. Die Entwicklungen in Italien finde ich extrem spannend. Der einzige Nachteil ist, das können Sie sich vorstellen, man braucht unfassbar viele Jurymitglieder. Das heißt, es ist sehr aufwendig. Wie das in Deutschland aussehen würde, möchte ich mir gar nicht ausmalen. Wie viele Gutachter man da zusammentrommeln müsste. Aber so oder so ist das auf jeden Fall ein spannender und guter Ansatz.“
Seit wann gibt es in Italien dieses neue System?
Dr. Isabel Roessler: „Das System hat vor 12 Jahren mit einer Fallstudienanalyse gestartet. Da wurde geguckt, ob das Thema überhaupt interessant ist. In dieser Form wird das System aber erst seit fünf Jahren durchgeführt. Man kann also schon Ergebnisse ablesen und es gibt viele Publikationen. Das neue System zur Wissenschaftsbewertung ist, soweit ich das beurteilen kann, positiv angenommen worden. Die Polytechnische Universität in Turin wirbt zum Beispiel ganz aktiv damit. Macht Pressearbeit, hat eine eigene Strategie dazu entwickelt und stellt ihre Projekte nochmal zusätzlich auf der Homepage vor. In diesem Kontext wird viel gemacht. Und nicht nur in Turin, an anderen Hochschulen auch. Turin ist mir einfach aufgefallen, weil das Thema bombastisch aufbereitet wird.“

Was gibt es für Neuerungen in Spanien?
Dr. Isabel Roessler: „In Spanien gibt es die sogenannten Sexenios. Das sind Evaluationen, die im 6-Jahres-Rhythmus durchgeführt werden. Die konzentrieren sich auf die Forschenden als Personen. Eine besondere Form der Sexenios richtet sich auf Transfer aus, für die Forschende ihre Transferprojekte und -erfolge einreichen können. Diese Bewertung ist eine notwendige Voraussetzung für Berufungen und Beförderungen. Der spanische Ansatz ist ein anderer als in Italien, greift aber auch den Transferaspekt auf.“
Könnte man die Ansätze aus Italien und Spanien auch in Deutschland etablieren?
Dr. Isabel Roessler: „Man sollte auf jeden Fall nicht die Augen verschließen. CoARA zeigt ja, dass es ein großes Interesse daran gibt Anpassung im System der Wissenschaftsbewertung durchzuführen. In meinen Augen kann durch den Ansatz der Fallstudien gut gezeigt werden, was wirklich läuft. Es wird in Deutschland nie passieren, dass alle Bundesländer auf einen Schlag sagen, super wir machen das jetzt. Aber es bewegt sich was, das sieht man schon. Zum Beispiel ist Niedersachsen gerade dabei die Mittelvergabe zu modernisieren und anzupassen. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass irgendwann einmal in einigen Bundesländern wenigstens ein ähnliches System erprobt wird.“
„Man würde vielen Wissenschaftlern und Hochschulen auf sehr positive Weise entgegenkommen“ – Dr. Isabel Roessler
Dr. Isabel Roessler: „Ich glaube damit würde man vielen Wissenschaftlern und Hochschulen auf sehr positive Weise entgegenkommen, weil das einfach ihre Realitäten viel besser abdeckt. Es wird immer auch Hochschulen geben, die sagen „Gott bewahre, bloß nicht“. Das ist etwas, das mir auch immer begegnet, nicht jeder kann alles, nicht jeder muss alles und nicht jeder sollte alles. Also sprich, wir haben natürlich auch Universitäten, die einfach stark in der Forschung verhaftet sind, oder Fachhochschulen, die ganz stark in der Lehre verhaftet sind, die sagen warum sollte ich jetzt auch noch Transfer betreiben. Was sollen wir jetzt auch noch mehr machen? Die würden es teilweise etwas schwieriger haben.“
Warum ist eine Reform der Wissenschaftsbewertung überfällig?
Dr. Isabel Roessler: „Forschung muss grundsätzlich überarbeitet werden, nicht nur in Bezug auf die Finanzierung. Forschung findet nicht mehr nur im stillen Kämmerlein statt. Forschung soll nicht nur für die Wissenschaft und für den Nachwuchs in der Wissenschaft betrieben werden. Wissenschaft ist für ganz viele andere Bereiche relevant, um die großen Herausforderungen in Deutschland lösen zu können. Das, was wir in Deutschland haben, sind eben nur unsere Köpfe. Wir haben keine großen Bodenschätze oder andere Ressourcen, aber wir haben Leute, die denken können. Das zu fördern und zu stärken ist absolut notwendig und das schließt natürlich auch die Neubewertung von Forschung mit ein. Ich finde absolut, dass man schauen muss, was Hochschulen im Zusammenhang mit den SDG’s tun und wie wir unser Land zukunftsfähig machen können. Da ist es notwendig auch in die Richtung der Gesellschaft zu schauen. Das sollte sich meiner Meinung nach überall niederschlagen. Auch in der Forschungsbewertung.“
Prof. Dr. Ute Klammer leitet die beiden Institute für „Soziologie“ und „Arbeit & Qualifikation“ der Universität Duisburg-Essen und betreut das Forschungsprojekt EXENKO, das fragt, was wissenschaftliche Exzellenz ist und wie diese sichtbar wird. Im Interview klärt sie über den unreflektierten Begriff der Exzellenz auf, sowie gibt Ideen und Lösungsstrategien wie die Forschung von Frauen und anderen benachteiligten Gruppen vermehrt sichtbar gemacht werden kann.

Was ist das EXENKO Projekt?
– Anknüpfung an Vorgängerprojekt –
Prof. Dr. Ute Klammer: „EXENKO ist ein vom BMBS (Bundesministerium für Bildung und Forschung) finanziertes Projekt. Der Ausgangspunkt war ein Vorgängerprojekt, in dem wir uns mit der Frage beschäftigt haben, was Professoren und Professorinnen von Gleichstellung wissen und wie sie dieses Ziel in ihr eigenes Handeln integrieren. Das Ergebnis des Projekts war, dass viele sagen, wir müssen etwas für Gleichstellung tun und Frauen und andere Gruppen sind unterrepräsentiert, aber zugleich einen Konflikt zwischen Gleichstellung und Exzellenz wahrnehmen. Gerade in Berufungskommissionen will man den oder die Beste nehmen. Es gibt einen Konflikt, wenn die Gleichstellungsbeauftragte sagt, versucht jetzt mal, eine Frau für Listenplatz 1 zu finden, wir brauchen mehr Frauen. Uns ist klar geworden, dass es scheinbar einen Konsens über Exzellenz gibt, aber unklar ist, ob wir diese neu denken und definieren müssen.“
– EXENKO –
Prof. Dr. Ute Klammer: „Das neue Projekt EXENKO, das jetzt nach drei Jahren abgeschlossen wurde, hatte erstmal das Ziel zu klären, was gerade jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen über Exzellenz denken, woran sie selbst wissenschaftliche Leistung festmachen und was sie auch leisten wollen. Dann haben wir noch untersucht, wie wissenschaftliche Leistung sichtbar wird. Warum ist gerade die wissenschaftliche Leistung von Frauen so wenig sichtbar? Man hat zum Beispiel in der Corona-Zeit gesehen, dass meistens männliche Experten befragt wurden.“

Was bedeutet Exzellenz?
Prof. Dr. Ute Klammer: „Bei Exzellenz ist es so, dass viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen den Begriff überhaupt nicht mehr reflektieren. Er scheint gesetzt zu sein, man sieht auch immer wieder die gleichen Kriterien. Dabei spielen international referierte Publikationen und Drittmitteleinwerbungen eine große Rolle. Netzwerke oder Internationalität werden auch als Auszeichnung oder Beleg für Exzellenz genommen. Lehre ist schon nachrangig, auch wenn es manchmal in Ausschreibungen aufgeführt ist. Wir haben aber viele Interviews mit jüngeren Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen geführt, die teilweise ganz andere Kriterien für wichtig erachten.“
„Wissenschaft wurde oft als Kampfarena beschrieben“ – Prof. Dr. Ute Klammer
Prof. Dr. Ute Klammer: „Viele wollen etwas gesellschaftlich Sinnvolles machen, etwas mit impact, und auch zusammenarbeiten und nicht nur in Konkurrenz. Wissenschaft wurde vor allem im ersten Projekt ganz oft als Kampfarena beschrieben. Die befragten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wollen auch über Fehler reden dürfen, um dadurch besser zu werden. Es gibt einen Clash, was die klassischen Exzellenz-Kriterien sind und was Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen eigentlich wollen. Viele Interviewpartner haben am sogenannten Salami-Slicing Kritik geübt. Also dass man ganz viele Stücke aus der Forschung schneidet, um damit möglichst viele Publikationen platzieren zu können. Und daran, dass man die Forschung nur daran ausrichtet, wie man Drittmittel einwerben kann.“
„Wir müssen darüber nachdenken unter welchen Umständen und Rahmenbedingungen Menschen Leistung erbringen“ – Prof. Dr. Ute Klammer
Prof. Dr. Ute Klammer: „Unsere Schlussfolgerung ist: Leute, wir müssen nochmal neu über den Exzellenzbegriff nachdenken und auch beachten, unter welchen Umständen und Rahmenbedingungen Menschen Leistung erbringen. Sachen wie hat jemand Kinder, ist jemand zugewandert und wie ist diese Leistung dann einzubetten und zu bewerten. Das wird viel zu wenig betrachtet. Wir müssen die klassischen Kriterien differenzieren – sind das wirklich unsere Kriterien für wissenschaftliche Leistungen? Das scheint mir nach wie vor viel zu eng gegriffen.“
Aus welchen Teilbereichen besteht das EXENKO-Projekt?
Prof. Dr. Ute Klammer: „Das EXENKO Projekt bestand aus mehreren Bausteinen. Der erste Baustein war die Auseinandersetzung mit Exzellenz mithilfe einer Interviewstudie. Darauf beruhend haben wir Aufsätze geschrieben, die deutlich machen, dass wir einen breiteren Blick auf Exzellenz und wissenschaftliche Leistungen entwickeln müssen. Der andere Teil des Projekts war die Frage, wie Leistung sichtbar wird, welche Teile von Leistung sichtbar werden und warum die Leistungen mancher Personen, vor allem Frauen, nicht sichtbar werden. Im Projekt haben wir mit vier Hochschulen zusammengearbeitet: RWTH Aachen University, Universität zu Köln, Universität Duisburg-Essen und die Hochschule Ruhr-West. Dort haben wir Workshops mit Menschen aus dem Gleichstellungsbereich, etablierten Professoren und Professorinnen, vor allem aber Post-Docs und Verantwortlichen für Hochschulkommunikation durchgeführt.“
„Vieles trägt dazu bei, dass Frauen nicht richtig sichtbar sind“ – Prof. Dr. Ute Klammer
Prof. Dr. Ute Klammer: „Uns ist klargeworden, dass vieles dazu beiträgt, dass Wissenschaftlerinnen oft nicht richtig sichtbar sind. Natürlich Machtstrukturen, aber auch fehlende Ressourcen. Hinzu kommt, dass viele Frauen Angst vor Cybermobbing haben. Es läuft aber heute viel über digitale Medien. Da ist bei vielen die Frage, muss ich da überhaupt sichtbar werden, oder setze ich mich da gerade als Frau, die körperlich verletzlicher ist, Anfeindungen aus. Es ist aber auch so, dass sich viele jüngere Wissenschaftlerinnen noch gar nicht damit auseinandergesetzt haben, wo und in welchen Arenen sie sichtbar sein wollen. Nur in der scientific community oder in der breiten Gesellschaft? Wie viel Zeit will ich dafür aufwenden? Wie könnte eine eigene Sichtbarkeitsstrategie aussehen? Oft fehlt das Know-How: Wie kann und will ich mich vermarkten?“
Was für praktische Ansätze wurden aus den Projekten entwickelt?
Prof. Dr. Ute Klammer: „Wir haben eine Handreichung entwickelt, die dazu beitragen soll, dass auch die wissenschaftlichen Leistungen von Frauen sichtbar gemacht werden. Das fängt damit an, dass man sich stärker vernetzt. Gerade die Hochschulkommunikation sollte sich mit den Post-Docs vernetzen. Personen können sich eigene Sichtbarkeitsstrategien erarbeiten, es können Science Pitches stattfinden und Sichtbarkeitssprechstunden durchgeführt werden. Die Hochschulkommunikation kann Listen angelegen, wer für welches Thema überhaupt sprechfähig ist. Das hat dann den Effekt, dass die Kommunikationsverantwortlichen vielleicht nicht immer zu den Big Bosses, den Lehrstuhlverantwortlichen gehen, sondern dann vielleicht auch mal jemand aus dem Nachwuchsbereich zum Zuge kommt. Das ist alles in dieser Handreichung niedergelegt. Wir haben schon sehr viel positives Feedback bekommen.“

Werden die Handreichungen schon praktisch von Hochschulen oder Organisationen angewendet?
Prof. Dr. Ute Klammer: „Wir haben die Ergebnisse schon in unterschiedlichen Kontexten vorgestellt. Ich war zum Beispiel zweimal bei der Alexander von Humboldt Stiftung eingeladen, die ja auch den Slogan „Exzellenz verbindet“ hat. Die Stiftung arbeitet jetzt auch selbst daran, nochmal zu überdenken, was Exzellenz ist. Ich war zum Beispiel in dem Scouting-Programm der Stiftung eingeladen, in dem es darum geht, dass Scouts exzellente Personen aus dem Ausland einladen können. Da geht es darum nach welchen Kriterien man bei den Bewerbern schaut. Dafür muss man die Scouts sensibilisieren.“
Welche Personengruppen werden vom derzeitigen Bewertungssystem benachteiligt?
Prof. Dr. Ute Klammer: „Auf jeden Fall werden nicht nur Frauen benachteiligt, sondern auch andere Gruppen. Wir haben in beiden Projekten aber vor allem auf Frauen geschaut, weil Wissenschaftlerinnen und Professorinnen immer noch eine kleine Gruppe stellen und wir in der Genderforschung verankert sind. Man kann sagen, dass alle Gruppen benachteiligt sind, die den Normalitätsannahmen nicht voll entsprechen. Ich war an der Uni lange Prorektorin für Diversity Management. Da ist mir klargeworden, dass allein Studierende, die aus einem akademischen Elternhaus kommen, ganz anders sozialisiert sind als solche, die aus der sogenannten bildungsfernen Schicht kommen. Die müssen sich mit ganz anderen Hürden rumschlagen. Ein scheinbar gleiches Examen mit einer 2, bedeutet dann eine ganz andere Leistung, wenn man diesen Weg hinter sich gebracht hat. So ist das eben auch in der weiteren wissenschaftlichen Karriere.“
„Manche müssen sehr viel weitere Wege zurücklegen und diese müsste man als Leistung noch viel besser anerkennen“ – Prof. Dr. Ute Klammer
Prof. Dr. Ute Klammer: „ Manche müssen sehr viel weitere Wege zurücklegen und diese Wege müsste man als Leistung noch viel besser anerkennen. Und auch potenzialorientierter sehen und fragen, wo sich jemand hin entwickeln kann. Da sind wir beim Thema Bildungsheterogenität. Es gibt auch einen ganz gewaltigen Clash bei den Normalitätserwartungen, wenn Personen aus anderen Kulturkreisen kommen oder Geflüchtete sind. Für diese Personen ist es wirklich sehr schwer in einem System Fuß zu fassen, das einen sehr engen Leistungsbegriff hat.“
Wie können benachteiligte Gruppen gezielt gefördert werden?
Prof. Dr. Ute Klammer: „Man könnte für bestimmte Gruppen bestimmte Förderprogramme vorsehen. Das kann zum Beispiel gezielter akademischer Spracherwerb für zugewanderte Akademiker und Akademikerinnen aus dem Ausland sein. Diese haben oft Schwierigkeiten, mit ihren Qualifikationen hier richtig Fuß zu fassen. Da sind wir richtig schlecht in Deutschland. In meiner Zeit als Prorektorin haben wir das tolle Projekt Pro Salamander, später ON TOP, entwickelt. Darin geht es um die Weiterentwicklung mitgebrachter Hochschulqualifikationen. Zuerst haben wir geschaut, was jemand hat und dann was man noch draufsatteln kann, um einen anerkannten deutschen akademischen Abschluss zu bekommen oder sogar eine wissenschaftliche Karriere zu machen. Für dieses Programm haben wir sogar den Deutschen Diversity-Preis bekommen. Leider gibt es das Programm heute nicht mehr, weil die Drittmittelförderung ausgelaufen ist und so ein Projekt nicht in der Regelfinanzierung einer Hochschule enthalten ist.“
„Man darf nicht erwarten, dass alles nach Schema x funktioniert“ – Prof. Dr. Ute Klammer
Prof. Dr. Ute Klammer: „Man kann viel machen, indem man erstmal schaut, was Menschen für Qualitäten mitbringen und wie man sie in das System einbinden kann. Man darf aber nicht erwarten, dass alles nach Schema x funktioniert. Was ich aber als Prorektorin gelernt habe, man darf nicht dazu tendieren, was wir in der Diversitätsforschung Schubladisierung nennen. Man darf nicht sagen, du bist jemand mit Migrationshintergrund, du hast jetzt einen besonderen Förderbedarf. Damit legt man ja bestimmte Kategorien fest, das ist auch ein Risiko. Ich nenne mal ein Beispiel, es ist vielleicht unklug eine spezielle Schreibwerkstatt für ausländische Studierende anzubieten, weil diese vermeintlich alle schlecht deutsch sprechen. Aber es ist gut, eine Schreibwerkstatt zu haben. Da kann sich dann jemand anmelden, der einen deutschen Background hat und jemand, der einen nicht-deutschen Background hat. Die Personen werden aber nicht gelabelt.“
An welchen Punkten kann man noch ansetzen?
Prof. Dr. Ute Klammer: „Ich glaube, dass der Kern der Probleme die extrem starke Wettbewerbsorientierung im Wissenschaftsbereich ist. Meiner Meinung nach hat die Exzellenzinitiative nicht nur glückliche Entwicklungen mit sich gebracht. Gerade Frauen wollen oft nicht ständig wettstreiten und sich beweisen müssen. Viele Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen wollen doch nur gut forschen. Der Wettbewerb kann dazu führen, dass viele Talente in der Wissenschaft wieder abspringen. Ich glaube das ist ziemlich verheerend. Gerade im Hinblick darauf, dass oft zeitlich begrenzt ganz viel Geld an bestimmte Institutionen geht, dann zum Teil aber wieder wegbricht. Als die Uni Bremen oder Uni Köln zum Beispiel ihren Exzellenzstatus wieder verloren haben, musste viel abgewickelt werden und Leute konnten nicht weiter beschäftigt werden. Ich glaube nicht, dass diese ständige Unruhe und der Wettbewerb die Exzellenz unterm Strich wirklich fördern. In einzelnen Clustern kann das anders aussehen. Allgemein führt es aber, glaube ich, zu Frustration und dazu, dass viele Forschungstalente, gerade Frauen, der Wissenschaft wieder verloren gehen.“
Glossar:
LOM (leistungsorientierte Mittelvergabe)
„Wer viel leistet, erhält mehr Geld“ – Die jeweilige Landesregierung weist der Hochschule Mittel über ein leistungsorientiertes Verteilungsmodell zu, welche die Hochschule über weitere Leistungsindikatoren an ihre Fachbereiche/Fakultäten weiterverteilt. Bsp. Leistungsindikatoren: Zahl der Publikationen, Drittmittel, Studierende
Drittmittel
Mittel, die zusätzlich zum regulären Hochschulhaushalt von öffentlichen oder privaten Stellen eingeworben werden. Sie dienen der Förderung von Forschung & Entwicklung sowie des wissenschaftlichen Nachwuchses & Lehre.
Transfer in der Wissenschaft
„Knowledge Transfer“ – Systematische und zielgerichtete Überführung von neuem Wissen der Forschung in die Gesellschaft. Inkludiert auch neue Technologien.
Third Mission
Zusätzliche Aufgabe der Hochschulen neben Forschung & Lehre sich in ökonomischen, gesellschaftlichen, politischen und sozialen Bereichen zu engagieren.
Beide Interviews führte Redakteurin Hanna Uhl am 11.03.2025.
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